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Titel
Missiles for the Fatherland. Peenemünde, National Socialism, and the V-2 Missile


Autor(en)
Petersen, Michael B.
Reihe
Cambridge Centennial of Flight
Erschienen
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
$ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eisfeld, Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer von Jeffrey Herf betreuten Dissertation („Engineering Consent: Peenemünde, National Socialism, and the V-2 Missile, 1924–1945“; University of Maryland 2005). Der ursprüngliche Titel trifft den Inhalt genauer, rückt er doch die Frage nach der prägenden Wirkung in den Mittelpunkt, welche die „Alltagskultur“ der Heeresversuchsanstalt (HVA) auf die Geisteshaltung der Peenemünder Ingenieure ausübte. Bekanntlich haben vor anderthalb bis zwei Jahrzehnten dokumentarische Studien den „Mythos Peenemünde“ zerstört, indem sie nachwiesen, wie sehr die Raketenkonstrukteure – an ihrer Spitze Walter Dornberger, Wernher von Braun und Arthur Rudolph – beteiligt waren an der Ausbeutung von KZ-Insassen als Arbeitssklaven durch das NS-Regime. Bezüglich der Motive Wernher von Brauns sind die Autoren zu weitgehend identischen Schlüssen gelangt: „Ein Opportunist […], konservativ und nationalistisch erzogen […], ging einen Pakt mit dem Teufel ein [...], motiviert durch seine lebenslange Besessenheit, weiter Raketen zu entwickeln, ohne Rücksicht auf den moralischen Preis“1; „Menschen stellten für von Braun Mittel dar zur Erreichung eines Ziels […]. Überzeugter Nazi war von Braun nicht – Opportunist allemal“2; „[…] für ihn gab es nur Befehl und Gehorsam, nicht aber moralische Prinzipien als Handlungsorientierung“.3

Doch können diese Feststellungen auch für andere Peenemünder Ingenieure gelten? Wie lässt sich die Bereitwilligkeit erklären, mit der zahlreiche Konstrukteure die Ausbeutung von KZ-Häftlingen initiierten, mittrugen oder mindestens hinnahmen? Hilft die Einteilung der Belegschaft in verschiedene Gruppen weiter – überzeugte Nazis, politische Mitläufer, Opportunisten, schließlich die große Mehrzahl derer, für die nur die Identifizierung mit ihrer Aufgabe zählte?4 Anzunehmen wäre, dass sich diese unterschiedlichen Gruppen letztendlich doch trafen in ihrer Einstellung, wonach brutal geschundene KZ-Häftlinge zur akzeptierten „Normalität“ gehörten.

Petersen kehrt diesen Versuch eines erklärenden Zugangs um. Er fragt nach den Wegen, auf denen die Ingenieure – aus ganz unterschiedlichen professionellen Zusammenhängen rekrutiert – binnen weniger Jahre zusammenwuchsen zu einer Gemeinschaft, verbunden durch eine berufliche, politische, bis ins Private reichende „Gruppenidentität“ als „Raketenspezialisten im Dienste des Nazistaats“ (S. 9). Dazu entwirft er ein Bild der HVA Peenemünde als eines Mikrokosmos, in dem die Gewährung materieller und immaterieller Privilegien, strikte Geheimhaltung, nationalistische und NS-Rhetorik sowie das Überlegenheitsgefühl, einer exklusiven, hoch spezialisierten Elite anzugehören, einander durchdrangen und sich gegenseitig bis zur Selbstgleichschaltung mit den (Kriegs-)Zielen und den Methoden des Regimes verstärkten.

Bereits der weitgehend entbehrungsfreie Alltag der Techniker, ihre großzügige Unterbringung, die ausgedehnten Möglichkeiten zur Freizeitbetätigung entlockten manchem Ingenieur – und gelegentlichen Kritikern wie Bewaffnungsminister Fritz Todt – die Worte „phantastisch“ und „paradiesisch“ (S. 64, S. 88-91, S. 93-96). Die hervorragende Ausstattung der Werkstätten, Montagehallen, Prüfstände und die immer aufs Neue bestätigte Überzeugung, Wegbereiter zu sein beim Vorstoß in technisches Neuland, trugen das Ihre bei zur Weckung von „Stolz“ und „Selbstwertgefühl“ (S. 89, S. 131f.).

Rigorose Geheimhaltungspraktiken wirkten in dieselbe Richtung: Sie stellten „Initiationsriten“ dar, signalisierten Teilhabe an einem Privileg, schmiedeten diejenigen zusammen, die den Vorschriften unterlagen, hoben sie noch weiter aus ihrer Umwelt heraus und schlossen sie gleichzeitig von ihr ab (S. 65f., S. 71ff., S. 80f.). Die „ideologischen Botschaften“ (S. 105), welche die Belegschaft fortwährend empfing – nicht zuletzt vom Kommando der HVA –, betonten diese Herausgehobenheit: Stets lautete ihre Quintessenz, dass nichts weniger auf dem Spiel stehe als die „Existenz des deutschen Volkes“ und dass den Peenemündern bei der Niederringung der Feinde eine „entscheidende“ Rolle zufalle (S. 102, S. 107). „Nation“ und „Regime“ wurden dabei völlig selbstverständlich gleichgesetzt (S. 105, S. 111, S. 114). Die NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedschaft, besonders verbreitet in höheren Positionen der HVA, tat ein Übriges, um „die Bedürfnisse des Regimes und die Bedürfnisse der Raketenkonstrukteure miteinander zu verschränken“ (S. 108-111, S. 249).

Als die Raketenfertigung durch KZ-Häftlinge auf die Tagesordnung rückte, erwies sich die fatale Tragweite der Einstellungen, die sich bei den Ingenieuren herausgebildet hatten: Verabsolutierung eigener Prioritäten ohne Rücksicht auf eingesetzte Mittel; Geringschätzung der Rechte anderer gegenüber denen der eigenen Gruppe; Unwilligkeit, ja Unfähigkeit zum Denken in ethischen statt in technischen Kategorien (S. 151f.). Nach der Untertageverlagerung der V2-Montage wurden zahlreiche Konstrukteure „unerlässliche Räder im Getriebe“ (S. 173) jenes Mittelwerks im Harz, das durch die Sklavenarbeit der KZ-Häftlinge des Lagers Mittelbau-Dora in Gang gehalten wurde. Wie Petersen zeigt (S. 178, S. 185ff.), fand besonders in den Abteilungen Betriebsarbeitseinsatz und Fertigungskontrolle ein umfangreicher Personaltransfer von Peenemünde zum Mittelwerk statt. Die „direkten Verbindungen“ (S. 185, S. 190), die sich dadurch zwischen Entwicklungswerk und Produktionsanlage herausbildeten, verweisen alle späteren Behauptungen von der sachlichen Trennung beider Stätten endgültig ins Reich der Legende.

Mit seinem Buch hat Michael Petersen die wichtigste weiterführende Studie seit den (gleichfalls archivgestützten) Untersuchungen der späten 1980er- und der 1990er-Jahre vorgelegt. Er untersucht „gemeinschaftsbildende Prozesse“ (S. 65f., S. 80f.), die 1937 bis 1943 in Peenemünde gewirkt haben und moralische „Abgestumpftheit“ (S. 151, S. 200) gegenüber der Zwangsarbeit und dem Leiden von KZ-Häftlingen einschlossen. Handelte es sich dabei letztendlich nicht um ein recht genaues Abbild der „Umwandlung“ der deutschen Gesellschaft durch das NS-Regime in jene „rassistische ‚Volksgemeinschaft‘“, deren Institutionen Michael Wildt überhaupt erst die Fähigkeit zur „entgrenzte[n] Praxis“ des Massenmords im besetzten Europa zugeschrieben hat?5 Und ließe sich der Erklärungswert dieses Ansatzes nicht noch steigern, indem man zusätzlich einen Blick auf das Bild vom „Reich“ wirft, das solche und ähnliche Gemeinschaftsvorstellungen lange vor 1933 prägte – das Reich als „Auftrag, den es zu erfüllen galt“, Inbegriff eines „Deutschland“, das „erst noch Wirklichkeit werden […] musste“?6

Der „glühende Wunsch […] nach einer mächtigen Autorität“, die jahrhundertelanger, als „traumatisch“ erlebter, deutscher Zersplitterung und Schwäche ein Ende bereiten würde, hatte ein „Reichsideal“ hervorgebracht, das, weil es „ans Heilige grenzte, […] besonders fordernd [und] unbedingt“ war. Entsprechend „fraglosen Gehorsam“ konnte ein „Führer“ einfordern, der im Namen des Ideals auftrat – erst recht, wenn es sich nach der unverarbeiteten Niederlage von 1918 um den vielerorts verzweifelt ersehnten starken Staat des „Dritten“ Reichs handelte, und erst recht in der Extremsituation eines neuen Krieges.7

Denn noch etwas kam hinzu: Zweieinhalb Jahrhunderte lang, bis 1918, war in der preußisch-deutschen Geschichte durch Befehl und Unterordnung, Militär- und Polizeigewalt die Gesellschaft „von oben“ geprägt worden. Stets wurde der einzelne durch die Staatsgewalt mehr beherrscht, als dass er gelernt hätte, sich selbst zu beherrschen und äußerliche Zwänge zu ersetzen durch Selbstkontrolle. Die obrigkeitsstaatlichen deutschen Traditionen „brachten oft ein eher schwaches individuelles Gewissen hervor“.8

Fehlender Selbstzwang und zwanghaftes Reichs- bzw. Wir-Ideal verstärkten sich gegenseitig zu „tyrannischer Härte“ des Einstellungs- und Verhaltenskanons9, als das NS-Regime in „eine[r] ungeheure[n] mephistophelische[n] Öffnung des Möglichkeitshorizonts“10 schrankenlose Gewaltanwendung schrittweise erst freigab, dann anordnete – und zwar keineswegs bloß gegenüber Juden, sondern gegenüber allen für „minderwertig“ Erklärten: Slawen und „Bolschewisten“, Sinti und Roma, Homosexuellen und „Asozialen“. Die von Elias, aber auch von Wildt benannten Prädispositionen dürften auf lange Frist den amoralischen Zügen jener Peenemünder „Gruppenidentität“ erheblich vorgearbeitet haben, deren Herausbildung Petersen überzeugend beschreibt.

Anmerkungen:
1 Michael J. Neufeld, The Rocket and the Reich. Peenemünde and the Coming of the Ballistic Missile Era, New York 1995, S. 179, S. 278. Siehe auch ders., Von Braun: Dreamer of Space, Engineer of War, New York 2007, S. 473, S. 476, S. 477: Neufeld zitiert dort resümierend den vom „Washington Star“ 1977 beschworenen „faustischen Schatten“ auf von Brauns Karriere und stuft diesen selbst, unter erneutem Rückgriff auf das Stichwort „Teufelspakt“, als „Faust des 20. Jahrhunderts“ ein.
2 Rainer Eisfeld, Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 25, S. 74.
3 Johannes Weyer, Wernher von Braun, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 61.
4 Vgl. Rainer Eisfeld, ‚Fortschritt‘ durch Vernichtung: Raketenpioniere und KZ-Häftlinge im NS-Staat, in: Yves Béon, Planet Dora. Als Gefangener im Schatten der V2-Rakete, Gerlingen 1999, S. 277-298, hier S. 285ff.
5 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 858.
6 Ebd., S. 138.
7 Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1989, S. 412ff., S. 417f., S. 421, S. 426, S. 441, S. 488, S. 499.
8 Ebd., S. 414, S. 437f., S. 494; vgl. auch S. 497.
9 Ebd., S. 445; vgl. auch S. 494.
10 Wildt, Generation, S. 26.

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